Bis tief in mein Knochenmark vibrierte der tiefe Glockenschlag. Im selben Augenblick drangen panikerfüllte Schreie aus der Stadt. Der Himmel hatte sich plötzlich schwarz gefärbt. Beißender Gestank erfüllte die Luft. Sie brannte in meiner Nase. Ich griff nach meinem Bogen und rannte in die Stadt zurück. Ein Reh flog förmlich an mir vorbei, als ich mich durch das Gestrüpp kämpfte. Ein Ast schlug mir ins Gesicht und riss mir knapp über der Augenbraue die Haut weg. Blut rann über meine Wange. Unbedarft wischte ich es mit meiner bloßen Hand ab. Ich durchbrach den Wald und fand mich auf der Hauptstraße zur Stadt wieder. Ich gönnte mir keine Verschnaufpause und rannte, so schnell mich meine Beine tragen konnten, weiter.
Was beim Hades ging hier vor sich? Was war es, das mein Volk in derartigen Schrecken versetzte? In der Ferne sah ich Krieger, die sich formatierten. Sie wirkten verwirrt. Wo war ihre Stärke hin? Mein Herz schlug im Takt der über’s Land hallenden Alarmglocke. Ihr tiefer Ton ließ meine Brust schmerzhaft krampfen.
Ich sah die Menschenmassen in die Stadt laufen. Bauern, die bis eben noch ihre Felder bestellten. Die wie ich, alarmiert durch das Geschrei und den Unheil verkündenden Klang der Stadtglocke zurück in die Stadt liefen, um nach ihren Familien zu sehen.
Plötzlich hörte ich das Rattern der Stadttore. Das schwere Holz knirschte über den Boden, um die Stadt sicher zu verriegeln und vor allen Gefahren zu schützen. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte und rannte noch schneller.
„Halt!“, rief ich den Soldaten, die die Stadt verschlossen, zu. So viele Menschen waren noch nicht heimgekehrt. Obwohl der Mittag gerade verstrichen war, war es dunkel, als ob die Nacht beschloss früher hereinzubrechen. Der Spalt zwischen den beiden Toren wurde immer schmaler. Bei dem Versuch hindurch zu schlüpfen, würde ich mir alle Knochen brechen. Mein Körper wäre zermalmt. Doch solche Gedanken, dieses Zögern, konnte ich mir nicht erlauben. Ich sprang durch den letzten Spalt hindurch. Staub flog mir in die Augen, als ich mit dem Gesicht auf dem Boden landete. Kleine Steinchen bohrten sich in meine Wange und der Dreck, der in meinen noch immer blutenden Schnitt gelangte, brannte wie Feuer. Ich hustete um den eingeatmeten Staub aus meiner Lunge zu bekommen. Hinter mir schlug das eisenbesetzte Holztor mit einem ohrenbetäubenden, endgültigem Schlag aufeinander. Schrille Rufe von außen drangen über die Mauer in mein Ohr. Sie flehten die Soldaten an, die Tore wieder zu öffnen. Sie schrieen nach ihren Familien, nach ihren Kinder, die alleine und angsterfüllt in ihren Hütten warteten. Nach ihren Frauen oder Männern, deren Lippen sie augenscheinlich nie wieder berühren durften. Ich winkelte meine Beine an. Wie eine kleine Kugel kniete ich luftholend auf dem Boden. Langsam richtete ich mich auf und wischte mir den Dreck aus dem Gesicht. Beim Anblick der allgemeinen Panik, die die Stadt beherrschte, packte mich die Angst. Meine Brust zog sich zusammen. Der Schrei, der sich bereits in meinem Hals gebildet hatte, verhallte ungehört. Ich röchelte. Meine Augen waren schreckensweit geöffnet. Man konnte die blanke Angst darin lesen.
Kinder saßen weinend auf der Straße. Männer nahmen ihre Frauen bei der Hand und zogen sie in verschiedene Richtungen. Eine Frau rannte die Straße entlang. Sie rief einen Namen, aber niemand reagierte darauf. Alles lief durcheinander. Ein Mann stieß einen kleinen Jungen beiseite, als er sich seinen Weg durch die Massen kämpfte. Der Junge blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ich wollte ihm helfen. Ihn wieder auf seine beiden kleinen Beine stellen. Ihm sagen, dass alles gut wird. Aber eine Welle der Hoffnungslosigkeit überschwemmte mich. Sie hielt mich auf dem staubigen Boden knieend fest. Das Geschrei um mich herum wurde immer lauter. Der Lärm überlagerte sich in meinem Kopf. Die Stimmen wurden immer panischer. Ich legte meine Hände auf meine Ohren und schloss die Augen. Ich wollte nichts mehr hören. Presste meine Knie, Halt suchend, in den Sand.
Kühle Finger umfassten meine Handgelenke. Eine stimme, ständig meinen Namen rufend, wurde lauter. Kristallisierte sich heraus. Jemand rüttelte mich an meinen Handgelenken. Es schmerzte. Ich öffnete meine Augen. Vor mir kniete Ioannis. Sein Mund bewegte sich. Bildete Wörter, die ich nicht begriff. Ich solle nach Hause laufen. Der Vulkan brach aus. Meine Schwester Meropi warte auf mich.
Ioannis schüttelte mich weiter. Langsam erwachte ich aus meiner Trance. Der Vulkan brach aus… Deswegen dieser brennende Geruch, die dunklen Wolken… Meropi!
Meine kleine Schwester – sie wartete zu Hause auf mich. Sie wusste nicht, dass ich es in die Stadt geschafft hatte.
„Daphné - so sag doch was!“ Ioannis schüttelte mich wieder. Ich fasste seine Hände und hielt sie fest. Wenn der Vulkan ausbrach – das war der Götter Strafe, die die Priester vorhergesagt hatten. Das war das Ende. Ganz Pompeii wäre ausgelöscht. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind – tot. Ich sah Ioannis tief in die Augen. Plötzlich begriff ich, was ihm schon eher bewusst war. Wir würden sterben. Kein Sterblicher entkam der Götter Strafe. Das durfte nicht sein. Ich wollte das nicht annehmen. Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand! Ioannis nahm meinen Kopf in seine Hände. Mit seinem Daumen zeichnete er den Schnitt nach, ohne meine Haut tatsächlich zu berühren.
„Daphné“, flüsterte er. „Lauf zu deiner Schwester. Verbarrikadiert Fenster und Türen. Versteckt euch in der hintersten Kammer. Bleibt dort, bis…“ Ioannis Stimme stockte. Bis was? „Was ist mit dir?“, fragte ich ihn mit zittriger Stimme. „Ich mache das Gleiche bei meiner Familie. Alles wird gut.“ Ioannis gab mir einen federleichten Kuss auf meine bebenden Lippen. „Wir werden uns wieder sehen. Versprochen!“ Er nahm mich nochmal in den Arm und zog mich nach oben. Dann ließ er mich auf dem Marktplatz stehen. Zu gern hätte ich ihm seine Lüge geglaubt, aber ich sah den Abschied in seinen Augen. Das Geschrei um mich herum brach plötzlich wie eine Brandungswelle wieder auf mich ein. Panik hatte Pompeii fest im Griff.
Meropi! Ich musste mich jetzt zusammennehmen. Ich musste für meine Schwester da sein. Ich rannte los. Ständig rempelte mich jemand an, aber ich kümmerte mich nicht darum. Hauptsache ich fiel nicht hin. Inzwischen war es finster, wie in der tiefsten Nacht und diese drückende Hitze ließ meine Lunge brennen. Endlich gelangte ich in das letzte Haus am Ende der Gasse. Ich stürmte hinein. Die Fenster waren bereits verhangen. Hektisch blickte ich mich um. Rief laut Meropis Namen.
„Ich bin hier.“ Aus der hintersten Kammer tönte eine leise, verängstigte Stimme. Meine Schwester saß zusammengekauert in einer Ecke. Über sich hatte sie ein Laken ausgebreitet. Ich ging auf die Knie und nahm sie fest in meine Arme. Mit ihren schmalen Händen umklammerte sie meine Schultern.
Plötzlich hörte ich schwere Schläge gegen das Dach trommeln. Der Klang erinnerte mich an Regen, aber es fühlte sich viel heftiger an. Die Schreie auf der Straße verstärkten sich. Meine Ohren schmerzten. Um Meropi zu schützen, legte ich meine Hände auf ihre Ohren. Sie flüsterte mir zu. Sie hatte Angst. Ich drückte Meropi noch fester an mich. Ich hatte auch Angst. Ich war überzeugt, dass wir sterben würden. Und ich war wütend. Meropi war zu jung. Sie sollte noch so viel erleben. „Mach die Augen zu.“, flüsterte ich. „Wenn du aufwachst, wird alles wieder gut. Versprochen.“ Meropi lächelte. Dann stürzte das Dach ein.
1 700 Jahre später fand man bei Ausgrabungen vom Ascheregen konservierte Körper. in einem Haus entdeckte man in der hintersteten Kammer zwei Mädchen, die sich Halt suchend und sich gegenseitig beschützend aneinander klammerten.
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